Gedankenwirrwarr & Ruhrpott

Meine ganz eigene Welt

Meine erste Liebe

Ich habe vor einer sehr langen Zeit ein junges Mädchen geliebt. Geliebt – ist nicht das passende Wort. Es trifft nicht so richtig zu. Mir fällt allerdings kein anderes dafür ein. Mir fehlt dafür die Sprache um es exakt zu beschreiben, diese Heftigkeit, diese Wucht, dieses grenzenlose Maß an emotionaler Aufgewühltheit. All der Irrsinn der mich umtrieb. Wahnsinn ist ein treffenderes Wort. Wenn ich nur ihren Namen hörte, brauchte ich Stunden um zur Ruhe zu kommen, um mich wieder zu finden. Wenn ich sie sah wünschte ich mir der Tod möge mich von dem Übel erlösen, denn schlimmer als der Schmerz, den ich gerade empfand, konnte er auch nicht sein.

Ich hatte so viel Angst sie anzusprechen. Neben ihr zu stehen oder auch nur zu atmen war außerhalb all meiner Vorstellungskraft. Sie könnte mich sehen, vielleicht hören. Eine kleine Geste, ein Blick, eine Bewegung der Gleichgültigkeit oder Abweisung von ihr, hätte mich wirklich sterben lassen. So war der Traum besser als alles andere. Es erschien mir Alternativlos.

Es muss so um 1979 gewesen sein. Ich besuchte ein Internat und sie war eine Klasse unter mir. Es fing irgendwann an. Ich weiß nicht wann. Auf einmal war sie da, obwohl sie schon lange da war. Ab da drehte sich meine kleiner Kosmos nur noch um sie. Man könnte es auch als Urknall bezeichnen. Auf jeden Fall nahm an einer nicht bestimmbaren Zeit alles seinen Anfang.

Was ab da auf mich zukam kannte ich nicht, darauf hatte mich keiner hingewiesen, vorbereitet oder gewarnt. Man kann noch so viele Bücher lesen, Lieder hören oder Theaterstücke sehen, niemand kann dies in Bilder oder Worte fassen. Niemand bereitet ein 16-jähriges Kind darauf vor. Niemand nimmt einem die Angst vor dem nächsten oder ersten Schritt. Die Angst davor alles zu verlieren.

Das Gefühl war unbekannt. Es gab keine Schmetterlinge, es gab nur glühendes Eisen, das mir gänzlich unvorbereitet in den Magen gerammt wurde. Und das Tag täglich, Monat für Monat. Ich hatte mich letztendlich so daran gewöhnt, dass es ein Teil von mir wurde. Ich litt und genoss zugleich.

Ich ergab mich dieser absurden Tragik.

Wenn ich heute noch Schnee, der durch das gelbliche Licht einer Straßenlaterne beleuchtet, sehe, muss ich unweigerlich an sie denken. Wie sie mich in den Schnee drückte, auf mir saß und sie sich so weit zu mir hinunter beugte, dass ich ihren Atem auf meinem Gesicht spürte und ich mich nur wenige Zentimeter hätte vorbeugen müssen um sie küssen zu können. Aber die Vorstellung, dass sie dies vielleicht möchte oder sogar gerade provozierte war mit absolut befremdlich. Wenn wir Samstags das Internat verließen und mit der Bahn nach Hause fuhren teilten wir uns gelegentlich ein Abteil, saßen uns gegenüber und sprachen kein Wort, sahen uns flüchtig an und schauten aus dem Fenster. Nur eine wohlige Zufriedenheit überkam mich und ein kurzer Schrecken, wenn ich daran dachte, sie für einen ganzen Tag nicht mehr zu sehen.

Sie stieg vor mir aus. Ich schaute aus dem Fenster und beobachtete sie, wie sie den Bahnsteig hinunter ging und ich wusste, ich würde ihr am nächsten Tag dabei zusehen wie sie wieder den Zug bestieg. Und das Wissen gab mir das Gefühl von Geborgenheit. Kein Verlust sondern Vorfreude. So saß ich zu Hause und wartete die Zeit auf den Sonntag Nachmittag ab. So wie ich viel später immer noch auf den Sonntag Nachmittag wartete, um dann in ihrem Wohnzimmer zu sitzen und mit ihr und ihrer Mutter Kaffee zu trinken, bevor wir mit meinem Wagen gemeinsam ins Internat fuhren.

1982, die Sommerferien waren zu Ende. Ich ging in die 13te Klasse und sie war nicht da. Der Schulhof war leer. Sie hatte das Internat verlassen. Sie hatte mich verlassen. Ich weiß heute nicht mehr, was ich damals dachte, fühlte oder verschwieg. Ich weiß nicht mehr, ob mich eine unvorstellbare Traurigkeit oder doch Erleichterung überkam. Ich weiß nur: Mir fehlte etwas.

Ich weiß nicht, was sie für mich empfand. Was sie über mich dachte. Ob sie mich mochte.

Wann immer das Gefühl aufkam: Mir fehlt etwas, erinnerte ich mich an sie, holte ihr einziges Bild hervor und spürte diesen leichten Stich, diesen Schmerz. Über Jahre hinweg. Ich hatte immer die Vermutung mehr gewonnen als verloren zu haben.

Jetzt sitze ich vor dem Rechner. Sehe mir ihr Bild von damals an, dieses wunderhübsche Mädchen mit der Ponyfrisur und den geflochtenen Zöpfen. Wie sie lächelnd in die Kamera blickt.

Und wieder fühle ich einen furchtbaren Schmerz. Einen anderen. Ich kann den anderen nicht mehr spüren. Er hat sich aufgelöst, ist einfach nicht mehr da.Er hat mich so viele Jahre begleitet, fast mein ganzes Leben. Und nun sehe ich das Foto an und ich empfinde in keiner Weise mehr etwas und sehne mich nach dem Schmerz. Und das schmerzt genauso grausam wie vor Jahrzehnten.

Die Vorstellung, nie wieder etwas für sie zu empfinden, hat mir etwas geraubt. Ich habe etwas ganz Ursprüngliches verloren und das macht mich einsam. Durch sie hatte ich das Gefühl bis in aller Ewigkeit mit einem Menschen verbunden zu sein. Nun sehne ich mich nach den vergangenen Tagen am Bahnsteig zurück. Abschied nehmen, mit der Gewissheit sich wieder zusehen. Auf einmal hat alles so eine Endgültigkeit. Ich bin mir selbst ein Stück fremd geworden.

Und plötzlich habe ich das unstillbare Verlangen mich ihr mitzuteilen, ihr alles zu erzählen und sie zu suchen. Was wieder eine absurde Komödie werden würde.